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1977: Einführung des Praktischen Studiensemesters


Erhard Wiebe - Praktisches Studiensemester

Prof. Erhard Wiebe
(Sprecher des Fachbereichs
Maschinenbau und Chemieingenieurwesen
von 1974 bis 1996)

Zu Beginn meiner Amtszeit gab es noch weiße Flecke in der Fachhochschullandschaft, einer davon war die nicht geregelte Praxisausbildung. Die zur Ingenieurschulzeit geltende mindestens zweijährige Praxisausbildung war mit Gründung der Fachhochschule auf höchstens ein Jahr verkürzt worden. Das Nähere ihrer Ausgestaltung sollten Studienordnungen regeln, die es aber noch nicht gab. Die Folge war, dass vorgelegte Nachweise praktischer Tätigkeiten, zusammenhängend oder gestückelt durchgeführt, akzeptiert werden mussten, selbst dann, wenn es sich um erkennbare Gefälligkeitsnachweise handelte. Wegen der Theorieaufstockung zu Lasten der Praxisausbildung sah die Industrie den Wandel von der Ingenieurschule zur Fachhochschule sowieso äußerst kritisch. Also musste rasch etwas geschehen.

Ich favorisierte die Zweiteilung der Praxisausbildung in Grund- und Hauptpraktikum, ersteres als Zugangsvoraussetzung, letzteres als Teil des Studiums, als Praktisches Studiensemester. Auf einer Zusammenkunft bei Herrn Werner Baensch, damals Vorsitzender des VDMA, Landesgruppe Nord, - uns heute als Stifter des Werner-Baensch-Preises bekannt - ging es wieder einmal um dieses Thema. Hier begann die enge und erfolgreiche Zusammenarbeit mit Herrn Siegfried Mundt, heute Geschäftsführer des VDMA, Landesgruppe Nord. Gemeinsam stellten wir das Projekt einem Kreis von Vertretern aus Industrie und Hochschule vor und stießen auf herzlich wenig aufmunternde Resonanz. Das Präsidium der Fachhochschule ließ gewähren ohne eigenen Einsatz, zunächst jedenfalls, und einer der Verbandsvertreter meinte sogar, er bedaure unser Engagement, denn werden würde daraus ja doch nichts.

Um das Projekt dennoch voranzubringen, folgten diverse Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Hochschule, unter anderem die Erstellung einer Informationsschrift für Betriebe im Raum Hamburg, die berüchtigte "Gelbe Broschüre". Autoren waren Mundt, Wiebe und Dr. Peter Schilling (Philips), später Ehrensenator der Fachhochschule Hamburg. Berüchtigt war die Broschüre deshalb, weil sie bei den Studenten Furore machte und heftigsten Widerstand gegen das Praktische Studiensemester auslöste. Sie bot den Nährboden für ein neues Solidarität stiftendes Feindbild, zur Mobilisierung bestens geeignet. Im Foyer des Fachbereichs hingen immer Wandzeitungen, jetzt galten Beschimpfungen wie "Büttel des Kapitalismus" mir. Mehrfach habe ich auf studentischen Vollversammlungen, on lautstarken Unmutsbekundungen begleitet, klarzustellen versucht, dass sich dieses Vorhaben nicht gegen sie richte, vielmehr in ihrem eigenen Interesse zum guten Ende gebracht werden müsse. Die Ablehnung der Studenten erfolgte auf ganzer Linie. Groß war die Empörung über die Zumutung, sich den Gegebenheiten der Berufswirklichkeit anpassen zu müssen, wo doch nicht Anpassung, sondern Veränderung und Überwindung bestehender Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben war. Viele sahen darin auch eine nicht hinnehmbare Verlängerung ihres Studiums, unbequem allemal.

Präsident Dr. Rolf Dahlheimer /
Prof. Erhard Wiebe (1980)
Auf der emotionalen Ebene hatte sich das Projekt heißgelaufen und festgefahren. Bewegung konnte dagegen auf der argumentativen Ebene in den Gremien erzielt werden. Im Oktober 1977 gab es grünes Licht mit dem Beschluss des Fachhochschulsenats, den Fachbereichen die Einführung praktischer Studiensemester zu empfehlen. Dass es für diesen Beschluss eine Mehrheit gab, war das Verdienst von Präsident Dr. Rolf Dalheimer.

Jetzt konnte es an die Umsetzung gehen. Ausbildungsrichtlinien über Ablauf, Durchführung und Nachweis mussten erstellt und der erste Durchlauf im Sommersemester 78 organisiert werden. Letzteres erwies sich als ein hartes Stück Arbeit. Obwohl schon lange vorher Kontakte zu möglichen Ausbildungsbetrieben geknüpft worden waren, lag das Ziel, bis zum Jahresbeginn 1978 alle Studenten vermittelt zu haben, in weiter Ferne. Von den mehr als 50 Studenten hatten zu diesem Zeitpunkt gerade mal zwei einen Ausbildungsvertrag. Das war erklärbar, aber nicht hinnehmbar, schließlich stand ich bei den Studenten, deren Vorbehalte ja nicht ausgeräumt waren, im Wort. Bei der Diskussion um das Für und Wider ging es immer um die Frage: Was geschieht, wenn Studenten trotz intensiver Bemühungen keinen Praktikantenplatz finden? Garantien wurden eingefordert und Alternativen. Meine Antwort darauf: Alle betroffenen Studenten können davon ausgehen, dass sie einen Praktikantenplatz finden, über Alternativen bräuchte ich nicht nachzudenken. Am Ende haben wir es tatsächlich geschafft, mit vereinten Kräften, wobei neben vielen Kollegen die bereits erwähnten Herren Mundt und Dr. Schilling mit großem Einsatz geholfen haben.

Acht Jahre nach Gründung der Fachhochschule und nach vier Jahren eigener Bemühungen war der zitierte weiße Fleck endlich kartiert. Gleichzeitig ist damit ein entscheidender Durchbruch gelungen. Das in den Unternehmen bestehende negativ besetzte Studentenbild jener Tage veränderte sich mit der Einführung des Praktischen Studiensemesters zum Positiven, schließlich handelte es sich bei den Studenten im Praktischen Studiensemester nicht um Störenfriede, die vor dem Werkstor Flugblätter verteilen und dahinter die Belegschaft aufwiegeln. Und die ablehnende Haltung der Studenten kehrte sich in ihr Gegenteil um, sie erkannten die Chance, ihr künftiges Berufsfeld kennen zu lernen und nutzten sie.

Prof. Erhard Wiebe
(Sprecher des Fachbereichs Maschinenbau und Chemieingenieurwesen von 1974 bis 1996)