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1957 - Das gesamte Semester bleibt sitzen


Reinhard Sperhake - Der "Trauerfall" in der Bauschule

Reinhard Sperhake studierte vom März 1955 bis März 1958 an der Bauschule Hamburg, die damals etwas exotisch bezeichnete Fachrichtung Tiefbau, hinter der sich in Wirklichkeit das Bauingenieurwesen verbarg. Er und seine Kommilitonen mussten 1957 das gesamte Semester zu Grabe tragen:

"Die Bauschule war zu jener Zeit in den oberen Geschossen des Museums für Kunst und Gewerbe am Steintorplatz untergebracht. Das Studium erfolgte damals ziemlich schulmäßig im Klassenverband, und es war üblich, es in der Regelstudienzeit von sechs Semestern abzuschließen. Am Ende eines jeden Semesters gab es allerdings nicht wie in der Schule ein Zeugnis mit Zensuren - schließlich waren wir ja keine Schüler, sondern Studierende - aber es gab für jedes Fach ein Testat, das zur Teilnahme am nächsten Semester berechtigte.

Wie die Lehrer in einer Schule waren auch unsere Dozenten sehr verschieden, es gab strenge und nette, gute und schlechte und also auch solche, die man nicht besonders ernst nahm. Das Letzte traf zu im Fach Vermessungswesen. Es war zwar interessant, wir lernten auch viel, nur die häuslichen Abschlussarbeiten zum Ende des Semesters machten wir nicht. Sie wurden allerdings auch nie nachdrücklich gefordert. So geschah es zu unserer völligen Überraschung, dass unser Dozent uns am Ende des 5. Semesters die Testate verweigerte. Damit waren wir nicht für das 6. Semester zugelassen. Wir waren "sitzen geblieben". Da es alle Teilnehmer des Semesters getroffen hatte, hätte es im folgenden Halbjahr kein 6. Tiefbausemester gegeben und anschließend auch keine Absolventen! Sehr kurios, auch für die Hamburger Bauwirtschaft, denn zu jener Zeit wurden Bauingenieure noch dringend gesucht.
Rechts: Reinhard Sperhake

Zwar fielen wir aus allen Wolken, aber so richtig ernst nehmen konnten wir diese Entscheidung unseres Dozenten trotzdem nicht. So beschlossen wir, gleich am folgenden Tag eine Trauerfeier zu veranstalten. Wir bastelten aus Holz und schwarzem Papier einen Sarg, mit dem wir symbolisch unsere Testate zu Grabe tragen wollten. Den Sarg stellten wir am nächsten Morgen in unserem Raum auf. Wir waren alle mit schwarzen Anzügen gekommen. Jemand hatte ein Tonbandgerät mit Trauermusik mitgebracht. Alles war inszeniert, bevor das erste Viertel begann. Der erste Dozent war überrascht, aber er entschloss sich, zur Tagesordnung überzugehen und seinen Stoff vorzutragen. Nach dem ersten Viertel hatte sich jedoch das Ereignis in der Bauschule herumgesprochen. In der Pause drängelten sich bei uns Kommilitonen aus anderen Semestern und Dozenten, um zu sehen, was los war. Der Direktor ging rein zufällig den Flur entlang, um einen Blick in unseren Raum zu erwischen, kam aber nicht herein, wohl da er nicht recht wusste, wie er reagieren sollte. Die Modellwerkstatt der Bauschule wurde inzwischen zum Dekorationsraum eines Beerdigungsinstitutes. Im dritten Viertel war kein Unterricht mehr möglich. Ganze Semester kamen während der Vorlesungszeit in unseren Raum, legten ihre selbst gefertigten Kränze und Trauergirlanden nieder und verharrten einige Minuten in stillem Gedenken vor unserem Sarg, bevor sie wortlos wieder verschwanden. Besonders einfallsreich waren die "Künstler" aus der Hochbauabteilung, die uns Tiefbauer sonst eigentlich kaum zur Kenntnis nahmen.

Das Ergebnis der Aktion: Wir bekamen alle unsere Testate. Das 6. Semester der Bauschule war gesichert. Die fehlende schriftliche Arbeit mussten wir zu Anfang des folgenden Semesters allerdings nachliefern."